„Jede Veränderung fängt in den Köpfen an“ – Brigitte Freihold im Interview

Brigitte Freihold

In der letzten Woche wurde der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes veröffentlicht. Sowohl die bundesweiten Zahlen wie auch die Werte für Rheinland-Pfalz sehen nicht rosig aus. Wir fragen Brigitte Freihold, für die Landtagswahl Kandidatin auf Platz 3 der Landesliste DIE LINKE, nach Ursachen, Auswirkungen und Gegenstrategien.

Brigitte, Arbeitslosigkeit, Hartz IV und Armut stehen im Wahlkampf nicht im Fokus der Diskussion. Statistisch betrachtet steht Rheinland-Pfalz im Bundesvergleich relativ gut da. Jenseits der Statistiken und in absoluten Zahlen gibt es aber doch einigen Grund zur Beunruhigung, oder?

Brigitte Freihold: Statistiken sagen nichts über die Situation von Menschen aus. Hinter jeder Zahl verbirgt sich ein menschliches Schicksal, das es wert ist, beachtet zu werden. Davon abgesehen ist es ein offenes Geheimnis, dass insbesondere die Arbeitslosenquote geschönt wird: Herausgerechnet werden ältere Arbeitsuchende ab 55 Jahren, ALG-II-Beziehende in Qualifizierungsmaßnahmen oder Arbeitsuchende, die längere Zeit erkrankt sind. Durchschnittlich liegt die tatsächliche Arbeitslosenquote rund 25 Prozent höher als uns die Arbeitsagentur glauben machen will – auch in Rheinland-Pfalz. Ähnliche Phänomene lassen sich auch bei der Armutsgefährdung oder bei Hartz-IV beobachten. Die Aussage von Statistiken hängt immer davon ab, welche Berechnungsgrundlage angenommen wird. Damit lassen sich Aussagen zum gewünschten Ergebnis steuern.

Und das heißt?

Brigitte Freihold: Das eigentliche Problem von Rheinland-Pfalz liegt in der erheblichen Bandbreite in den unterschiedlichen Regionen. Im letzten Jahrzehnt haben sich Armutsregionen mit hoher Arbeitslosigkeit insbesondere in der Westpfalz, im Hunsrück und in der Eifel herausgebildet und verfestigt. Pirmasens, wo ich her komme, ist seit 1997 trauriger Spitzenreiter in der Arbeitslosenstatistik des Landes und seit 2005 mit rund 30 Prozent Kinderarmut ein sozialer Brennpunkt in Rheinland-Pfalz. Erst wenn man sich die absoluten Zahlen vor Augen führt, wird das Ausmaß der sozialen Schieflage deutlich. Alleine mit den 1.600 in Armut lebenden Kindern aus Pirmasens und den 10.000 ALG-II-Beziehenden aus Kaiserslautern kann man ein mittleres Fußballstadion füllen. Nimmt man die in Armut lebenden Rentnerinnen und Rentner aus diesen beiden Städten dazu, reicht es schon für den Betzenberg. In einer reichen Stadt wie Ingelheim mit annähernder Vollbeschäftigung sähe dieses Bild ganz anders aus. Deshalb vernebeln Durchschnittswerte – zumal geschönte – den Blick auf Realitäten, die alles andere als gut sind.

Wo liegen die Gründe dafür, dass einzelne Regionen in unserem Bundesland besonders von Langzeiterwerbslosigkeit betroffen sind, und warum wird die Landesregierung dieser Lage nicht Herr?

Brigitte Freihold: Pirmasens und die Südwestpfalz waren jahrzehntelang geprägt von der Schuhindustrie, wo 10-tausende Menschen Lohn und Brot fanden und die heute nahezu verschwunden ist. Die ausgeprägte Monostruktur dieser Region hat die Ansiedlung anderer Industriezweige verhindert, teilweise wurde dies sogar bewusst gesteuert. Deshalb sind hier nie neue Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang entstanden und es dürfte bundesweit kaum eine Region geben, wo sich Massenarbeitslosigkeit so lange und generationenübergreifend verfestigt hat wie bei uns. Sämtliche Landesregierungen seit den 1970er Jahren – nicht nur die jetzige – haben es versäumt, dieses Problem ernsthaft anzugehen. Darüber hinaus war und ist die Region selbst politisch auf Bundes- und Landesebene nur schlecht vertreten.

Was muss getan werden, um die Verfestigung von Armut zu bekämpfen?

Brigitte Freihold: Abgeschriebene Gebiete wie die Südwestpfalz könnten zu Modellregionen für erneuerbare Energien, Klimatechnologie und Umwelttechnik in Rheinland-Pfalz werden. Wie so etwas mit dem entsprechenden politischen Willen gehen kann, hat beispielsweise die Stadt Freiburg im Breisgau vorgemacht. Dort wurden in einer ähnlichen Situation alte Zöpfe konsequent abgeschnitten und eine Zukunftsvision entwickelt, die für wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze gesorgt hat. Das bedeutet das Bohren dicker Bretter, aber jede Veränderung fängt in den Köpfen an. Solange hier die herrschenden Köpfe an überholten Konzepten festhalten, werden ganze Landstriche dauerhaft Armutsregionen bleiben.

Als Lehrerin mit vielen Jahren Berufserfahrung kannst Du sicher auch zur Lage der sozial benachteiligten Kinder etwas sagen. Verringern sich die Bildungschancen bei Schülerinnen und Schülern, die aus Familien mit Langzeitarbeitslosigkeit kommen?

Brigitte Freihold: Ja, eindeutig. Die soziale Auslese im Bildungssystem hat in den vergangenen Jahren nicht ab-, sondern zugenommen. Immer weniger Kinder aus Arbeiterfamilien schließen ihre Ausbildung mit Abitur oder Studium ab, Akademiker bleiben zunehmend unter sich. Noch gravierender wirkt sich dieser bildungspolitische Zustand bei den Langzeitarbeitslosen aus. In meiner Heimatregion sind rund 12 Prozent der jungen Generation ohne jeden Schulabschluss, die überwältigende Mehrheit dieser jungen Menschen ist in Hartz-IV-Haushalten aufgewachsen. Im Schulalltag haben Armut und Hartz IV ein Kindergesicht. Kinder, die verwahrlost und hungrig in die Schule kommen und sich kaum am Unterricht beteiligen können. Kinder, deren Gesichtsausdruck seltsam erwachsen wirkt, weil man sie einer behüteten Kindheit ohne Not und Mangel beraubt hat. Kinder, die mit erheblichen Lernschwächen und erkennbaren psychischen Störungen dem ständig zunehmenden Leistungsdruck in der Schule nicht gewachsen sind. Gegen diesen gesellschaftspolitischen Skandal unternimmt die herrschende Politik seit Jahren nichts. Land und Kommunen ziehen sich auf den Standpunkt der leeren Kassen zurück und übergeben ihre Verantwortung an das Ehrenamt. Karitative Einrichtungen können diese Problematik nicht bewältigen, sondern etablieren ein mittelalterliches Almosensystem. Das kann es nicht sein!

Wie lauten die Vorschläge der LINKEN, um die Situation regional und flächendeckend zu ändern?

Brigitte Freihold: Am Anfang steht die Erkenntnis, dass wir es nicht nur mit benachteiligten Regionen, sondern innerhalb dieser Regionen mit benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu tun haben. Stichwort Bildungsoffensive: Eine Förderung muss bei frühkindlicher Bildung anfangen, mit einem integrierenden Schulsystem ohne soziale Auslese fortfahren und mit einer für alle zugänglichen Berufsausbildung – sei sie berufsorientiert oder akademisch – abschließen. Flächendeckend brauchen wir ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Infrastruktur, öffentliche Daseinsvorsorge und erneuerbare Energien, um nur drei Schlüsselpositionen zu nennen. Das schafft Arbeitsplätze, Kaufkraft, wirtschaftliches Wachstum und steigende Steuereinnahmen. Es setzt aber eine antizyklische Wirtschaftspolitik voraus, bedeutet Schluss mit dem Diktat der 'Schwarzen Null' und ganz konkret die Aufhebung der Schuldenbremse. Zur Finanzierung eines wirksamen Zukunftsinvestitionsprogramms ist eine begrenzte Neuverschuldung unumgänglich. Wer jetzt weiter auf Sparen und Kürzen von Staatsausgaben setzt, spart sich selbst von der Bildfläche. Diese Aufgabe kann das Bundesland Rheinland-Pfalz nicht alleine stemmen, sondern es bedarf einer deutlichen Erhöhung der staatlichen Einnahmen auf Bundesebene durch eine gerechte Steuerpolitik und eine Reform des Länderfinanzausgleichs.

Reicht es aus, wie üblich nach dem Gießkannenprinzip Gelder zu verteilen – dies zumindest im Wahlkampf zu versprechen – oder bedarf die Integration sozial Benachteiligter weitergehender Forderungen? Und wie wirst Du Dich im Landtag dafür einsetzen?

Brigitte Freihold: Wir müssen das gegliederte Schulsystem endlich abschaffen, Inklusion umsetzen und für eine ausreichende Finanzierung und umfassende Modernisierung der Lerninhalte und des Bildungssystems unter pädagogischen Gesichtspunkten sorgen. Dafür brauchen wir mehr und gut ausgebildete Lehrer, mehr Schulpsychologen und mehr Schulsozialarbeiter. Dies sind die großen Schritte, die auf Landesebene anzugehen sind. Aber das Rad braucht nicht neu erfunden zu werden, denn es gibt europäische Länder, die ihre Hausaufgaben viel besser und früher erledigt haben als wir. Das Problem liegt allerdings tiefer: Soziale Benachteiligung hat nicht nur etwas damit zu tun, ob mein Kind in einer Schule für Alle unterrichtet wird, der Geldbeutel der Eltern keine Rolle mehr spielt und die Pädagogik des 19. Jahrhunderts überwunden ist. Sie hat auch damit zu tun, welches Menschenbild wir vertreten und vermitteln und ist demnach eine Frage der Menschenwürde und wie wir unsere Kinder vor Ellenbogenmentalität, Konsumterror und Egomanie in dieser Gesellschaft schützen und ihrer Erziehung eine andere Richtung geben. Dies alles wollen wir politisch in Rheinland-Pfalz angehen und im Landtag auf die Tagesordnung setzen.

Brigitte, wir danken für dieses Gespräch und wünschen Dir viel Erfolg als Kandidatin der LINKEN bei der Landtagswahl.

Zur Person: Die Grund- und Hauptschullehrerin Brigitte Freihold, Jahrgang 1955, ist Stellvertretende Landesvorsitzende der Partei DIE LINKE. Rheinland-Pfalz. Als Mitglied im Bezirkstag der Pfalz und als Stadtratsmitglied in Pirmasens setzt sie sich seit Jahren insbesondere in der Sozial-, Jugend- und Bildungspolitik ein.